Simone Buser: Die Fäden der Erinnerung – Das Schicksal von Frölein Erna

Simone Buser, 02.03.2025

Simon Buser

Die Maschine, ein Koloss einer Ostschweizer Spinnereifabrik, und Erna ein gehetztes Bündel Mensch davor. Ihre Hände im Gefecht mit den Spulen – den leeren, den vollen – , die immerzu drehen im Rattern und Knattern inmitten der riesigen Halle. Schon wieder reisst ein Faden, einer von vielen Fäden, die ihr die Seele zuschnüren. Endlos Netze in den Kopf weben, in denen sich ihre Gedanken verfangen. Vergessen soll sie das Kind, dem rosa Gesichtchen die blaugrauen Äuglein eindrücken, so dass es nur noch aus Höhlen starrt, wie die kaputten Puppen, die man auf den Estrich wirft. Vergessen auch die überwältigenden Kräfte, die es hervorgebracht haben.

Ein Jahr zuvor, 1963: Oft hockten sie abends zusammen, im blauen Dunst, im schwarzweiss flimmernden Fernsehlicht, über dem Dach das herrschaftliche Zürcher Grossmünster in protestantischem Ermahnen. Erna, ein Fräulein mitten in der Lehre, die Älteste. Vater mit Aussicht auf das erste Treppchen auf der Karriereleiter. Mutters wacher Geist drehte im Hamsterrad der Haushaltspflichten. Ab und zu sprühte sie Funken: «Hüt gits nume Ravioli us dä Büchs». Jeder Franken fand sich feinsäuberlich im Haushaltsbüchlein wieder. Augen und Ohren der Nachbarn überall. Nicht selten bewegten sich die Vorhänge hinter den Fenstern gegenüber, als ginge ein Luftzug durch sie. Im Treppenhaus schwebte die Ausdünstung der Wohnungen als Dunstglocke über dem neuesten Geschwätz.

Sekretärin wollte sie werden. Fleissig, fürsorglich, adrett. In der firmeneigenen Kantine berührten sich dann ihre Hände, als beide nach demselben Tablett griffen: «Oh, Äxgüsi, Frölein». «Scho guät, da chönnt Sie ja nüt defür.» Er arbeitete in der Werkstatt, die Nägel schwarz umrandet, die Haare strähnig lang. Sein Lächeln erhellte bübische Züge im männlichen Schnitt. In den Pausen und nach Feierabend entführte er sie in den Hinterhof, wo sie ihre erste Zigarette rauchte. Mit dem Daumen hob er dann sacht ihr Kinn an und blickte ihr in die Augen. Schwarze Lederjacke, Nieten eingestanzt in den Gurt. Für sie waren es erste Schritte auf dem Liebesparkett, er schien darauf schon gekonnt zu tanzen. Ihre Lebensgier verfing sich in seiner sanften Verruchtheit, mit der er sie auf sein Motorrad hievte. Dann sein Hauch an ihrer Wange, sein pochendes Fordern und ihr weiches Nachgeben, glückselige Versuche, sich im anderen zu verlieren. Er nahm sie mit ins Klublokal im Niederdorf, wo erste Popmusik-Rhythmen die Wände erzittern liessen. Irgendwann hätte sie vermutlich zu Elvis Presleys Hüftschwung gekreischt, wenn sie sich nicht immer wieder von zu Hause weggeschlichen hätte, geradewegs in sein Verlangen. Wenn für sie nicht alles unterhalb der Hüften von gemauscheltem Halbwissen beseelt gewesen wäre. Hätte für sie nicht eine neue Zeitrechnung begonnen.

Anfangs war es nur ein Fetzchen Ahnung, das sich zögerlich in ihr Bewusstsein schlich. Nach einer Woche war es schon dreifach so gross. Intervallartig, zwischen Verdrängen und Aufschrecken, suchte sie die beschützenden Lederjackenarme. Aber die lockerten den Griff um ihre Taille bei jedem Treffen mehr, bis das Liebesgeflüster schliesslich an den Pflastersteinen des Niederdorfes verhallte.

Ernas Hormone fingen an, das aufkeimende Leben in ihrem Bauch zu verteidigen. Sie rannte mit vorgehaltener Hand aus jedem Zimmer, was die Eltern aufschreckte, als ginge ein Ungeheuer herum. Die Stube verwandelte sich in eine Bühne für dramatische Inszenierungen. Vater rauchte die Zigaretten von da an in nur drei Zügen, bevor er die Stummel im Aschenbecher versenkte. «Weisch dänn wenigschtens, wele dir das aghänkt hät.» Mittendrin das Fürsorgeamt mit Paragrafen und Geldern, die es lieber nicht ausgeben wollte. Mutter, der oft die Decke auf den Kopf zu fallen schien, erlahmte im Aufbäumen für eine innerfamiliäre Lösung. «Häsch dänn nöd chönnä ufpassä.» Auf dieser Bühne wurde besiegelt, was Erna nie besiegeln wollte. In die Ostschweiz sollte sie verreisen, und dort werde sich alles richten. Erst ein paar Zentimeter gross war dieses «ES», für die Welt noch unsichtbar und schon standen ordentliche Familien Schlange, um es ihr Eigenes zu nennen. Ernas Wunden würden sich nicht glätten, wie verkrustete Erdfurchen nach dem Regen. Das wusste sie in dem Augenblick, in dem sie blind vor Tränen ihr inneres Beben in der Resignation erstickte.

In der stickigen, lärmigen Luft an der riesigen Webmaschine durfte sich der Bauch dann wölben, bis sie das Kind herauspresste. Sie sah es nur ein einziges Mal. Nach der Geburt musste sie zur Nacherziehung noch ein paar Monate bleiben. Tagsüber in der Maschinenhalle, nachts im Schwesternheim der frommen Barmherzigkeit.

«Fräulein Mutter» hätte man sie genannt, hätte sie die Chance zur Mutterschaft gehabt. Sie, eine dieser ledigen verruchten Dinger, die sich einfach so ein Kind machen liessen. «Frölein, was händ Sie sich dänn nume däbi dänkt?»

Nachwort: Der Roman «Die Verlorene» von Michèle Minelli beleuchtet in packender, erschütternder Weise das Schicksal von Frieda Keller, die im Jahre 1904 zum Tod verurteilt wurde. Aus Not und Verzweiflung hatte sie ihren kleinen Buben getötet. Die Verfilmung «Friedas Fall» wurde kürzlich in den Schweizer Kinos gezeigt. Regie: Maria Brendle, Drehbuch zu 60 Prozent Michèle Minelli. Frieda inspirierte mich für die Geschichte von Erna, 60 Jahre später.

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