Teodora Kostyàl, 05.10.2020
Mit
einem Brief ans Christkind hat es angefangen: nach Vorlage
Das ging
so: Ich äusserte meine Wünsche, eine Glocke an den Weihnachtsbaum und ein
Transistorradio für meinen Vater;
jemand in der Familie brachte die Worte mit Grossbuchstaben auf Papier, und ich
habe sie nachgeschrieben.
Dann kam
ich in die Schule. Dort wurde ich sehr bald nicht nur über das Christkind bzw.
dessen Nicht-Existenz aufgeklärt und dadurch um ein Wunder ärmer, sondern bin
auch von einem neuen Zauber in Bann gezogen. Wir haben riesige Buchstaben in
die Luft gemalt: das erste Mal mit der Schrift die Welt umarmt. Der ganze
Körper, das ganze Wesen war in einer Gebärde mit einem einzigen Buchstaben
vereint! Anschliessend wurde die Bewegung mit farbiger Kreide gross auf
Zeitungspapier übertragen und dutzende Male nachgezogen, je ein Schriftzeichen
auf einer Seite. So hatte jedes Zeichen seinen eigenen Tanz, seinen eigenen
Rhythmus entfaltet.
Später sind sie kleiner geworden und haben sich auf Linien versammelt, wie unsere Schwalben kurz vor dem Abflug in den Süden auf den Telegraphenleitungen.
Es folgten viele Seiten und Stunden des Übens mit immer mehr aufkommender Freude, als da aus den zerzausten und stolpernden Nestlingen zugfähige Jungvögel geworden sind.
Mit jeder Zeile flog mir das greifbar gewordene Ungreifbare mehr und mehr zu: eine unendliche, neue Welt.
Später,
flügge geworden, bin ich im Alltag gekreist: mitteilen, bitten, sich
entschuldigen, vergeben. Auch klagen, fragen, kämpfen, reklamieren.
Gratulieren,
Prüfungen ablegen, Diplomarbeit schreiben - ja, die Rohfassung von Hand!
Die Geburt neuer Menschen ankündigen, Todesbotschaften formulieren.
Sich in langen Briefen über die verschiedensten Themen austauschen. Mit der Zeit haben sich dabei nicht nur die Inhalte, sondern auch die Gestalt der Schriftzeichen verändert – wie mein eigenes Spiegelbild.
Unterwegs
bin ich gelegentlich in Fangnetzen stecken geblieben, aber immerhin nicht in
der Pfanne gelandet – wie jährlich Tausende von Zugvögeln. Die Einträge in die Tagebücher
in Form von spontanem Schreiben ohne Zensur haben es ermöglicht, wieder zu mir
zu finden. Und mich zu befreien. Den Ängsten ins Auge zu schauen und Vertrauen
zu gewinnen, dass unmöglich Scheinendes möglich werden kann.
Segeln
im freien Flug, die Vielfalt der Welt erleben, sowie darüber reflektieren,
Gedichte und Geschichten – vom Wind zugeflüstert - empfangen und weitergeben.
Dann
tauchte am Horizont eine neue Hürde auf. Schneller als erwartet und grösser als
alles andere zuvor: Die Patientenverfügung, Hand in Hand mit dem
Vorsorgeauftrag.
Diesmal ein Wegrücken von mir: Das bisher Greifbare war ungreifbar geworden. In gewissem Sinne das Schreiben (und Sprechen) vom Jenseits. Den leuchtenden Herbstfarben ähnlich, die schon im Sommer vorhanden, aber unter dem Blattgrün verdeckt sind.
Als die im Jetzt verborgene Zukunft.
Unser
allerletztes Blatt, das noch vor den letzten
Seiten beschrieben wird.
Weil
wir, solange wir nur können, mit voller Hingabe weiterschreiben. Nicht nur für
uns. Auch, um Spuren zu hinterlassen.
Wer
träumt nicht davon?
Ganz nach
dem Motto:
Ich schrieb, also bin ich gewesen und werde sein.